Sinfonie Nr. 9 in e-Moll op. 95 „Aus der Neuen Welt

Adagio – Allegro molto
Largo
Scherzo. Molto vivace
Allegro con fuoco

Jetzt beende ich soeben die neue Sinfonie e-Moll und freue mich sehr, daß sie wieder anders wird als die früheren. Sie wird vielleicht ein wenig amerikanisch!!!“ (Brief an Antonin Rus vom 14.4.1893)

Dem ehemaligen Metzgersgehilfen Antonin Dvorak wurde von höchster Stelle die Leitung des Musikkonservatoriums in New York angetragen – unter so lukrativen Bedingungen, dass der leidenschaftliche Böhme nicht ablehnen konnte. Drei Jahre wirkte Dvorak ab 1892 deshalb in Amerika. Er hatte den erklärten Auftrag, junge Komponisten auszubilden, die eine eigenständige amerikanische Kunstmusik begründen könnten. Bereits kurz nach seinem Dienstantritt sammelte Dvorak Einfälle und Melodien, die er ab dem Jahresbeginn 1893 bis zur Mitte des Folgejahres zu einer Sinfonie ausarbeitete. Deren Uraufführung am 15. Dezember 1893 erfuhr eine begeisterte Zustimmung. Die Kritik besprach das Werk günstig und hielt fest, dass Dvorak damit die an ihn gestellten Erwartungen des amerikanischen Musiklebens voll erfüllt hätte: Die Themen seien „(…) durchdrungen (…) vom Geiste der Neger- und Indianermelodien (…)“ und Ausdruck „(…) einer neuen Musikepoche (…)“. Es sagt viel über das amerikanische Kulturverständnis dieser Zeit aus, dass die Allgemeinheit offenbar kein Problem damit hatte, wenn eine neue „amerikanische“ Musikkultur von einem böhmischen Exilanten begründet wurde. Ob man Dvorak diese Absicht überhaupt so unverblümt unterstellen darf, ist angesichts der vielen sehr melancholischen Stellen des Werkes aber durchaus fraglich. Es steckt in der Sinfonie wohl ebenso viel Heimweh wie Neubeginn. Wenn der Komponist wirklich den Wünschen seiner Auftraggeber entsprechen wollte, so tat er das nicht, ohne seine Herkunft verleugnen. In musikalischer Hinsicht lässt sich der Titel „Aus der Neuen Welt“, den Dvorak dem Werk im letzten Moment verpasst hatte, auch als Anspielung auf seine, im Oktober 1892 unter dem Titel „Zwei Neue Welten – Die Neue Welt des Columbus und die Neue Welt der Musik“ gehaltene Rede verstehen. In der neuen Welt hat Dvorak auch musikalisch Neues für sich entdeckt, insbesondere das sogenannte „leittonlose Moll“ und die pentatonische Motivbildung. (Die in diesem Zusammenhang oft genannte Synkope war ihm jedoch bereits aus der böhmischen Volksmusik vertraut.)

Berührt an der langsamen Einleitung der wehmütige Tonfall der tiefen Streicher, so erregt der Hauptsatz mit Leidenschaft und Unruhe. Viel drängende Kraft geht von dem auf- und niederstürzende Hauptthema aus. Im folgenden Largo setzt das Englischhorn mit seinem berühmten Solo ein. Es ist an das amerikanische Traditional „Song of Hiyawata“ angelehnt. Über weite Strecken tragen die Holzbläser das Geschehen, bevor am Ende die mystischen Bläserakkorde des Anfangs wiederkehren. Das Scherzo lebt ganz aus der Kraft des Rhythmus, der die teils belebten, teils innehaltenden Themen bewegt. Für das Finale bündelte Dvorak im Kontrast zwischen dem mitreißenden Schwung des Anfangs und einer elegischen Klarinettenmelodie nochmals seine Kräfte.

Eine Besonderheit prägt diese Sinfonie: Das Hauptthema des ersten Satzes wird als Leitmotiv verwendet. Das heißt, dass es in allen späteren Sätzen an entscheidenden Punkten wieder auftritt und im Laufe des Stücks eine Wandlung erfährt. Wie soll man das deuten? Ist das ein Symbol für Dvorak selbst, der sich in neue musikalische „Kontexte“ hineinkomponiert hat? Ist dieses Thema eine Art musikalische Schicksalsfigur, die „auf Reisen“ geht? Oder lehnt sich Dvorak damit einfach an Tschaikowski an, der in seinen Sinfonien das genau gleich gehandhabt hat? Wenn, dann könnte man das als einen Bezug zur „Alten Welt“ verstehen, in die Dvorak nach Ablauf seines Vertrages 1895 zurückgekehrt ist. Dass er sich ab diesem Zeitpunkt in seinen sinfonischen Dichtungen bewusst auf tschechische Mythologie bezog, macht seine amerikanischen Jahre nachträglich zu einem „Ausflug“ und einer „Episode“. Das kostbarste Andenken an seine Zeit in der Neuen Welt ist seine Sinfonie „Aus der Neuen Welt“.

 

Text: Dr. Stephan Hölllwerth