„Montagues und Capulets“ – „Julia als Mädchen“ – „Pater Lorenzo“ – „Tanz“ – „Romeo und Julia vor der Trennung“ – „Tanz der Antillenmädchen“ – „Romeo am Grabe Julias“
Sergej Prokofjew war 1935 nach Jahren in Europa und Amerika endgültig in die Sowjetunion zurückgekehrt. Im selben Jahr erhielt er einen Auftrag des Moskauer Bolschoi-Theaters für eine Ballettkomposition nach Shakespeares „Romeo und Julia“. Dem weitgereisten Komponisten gelang darin eine dichte Partitur voll origineller Einfälle und Gefühlstiefe. Dass er stellenweise auch vor heftigen Dissonanzen nicht zurückschreckte, konnte er mit „szenischer Notwendigkeit“ argumentieren. Auf jeden Fall traf Prokofjews Musik den Nerv von Musikern, Tänzern und des Publikums: Zündende Rhythmen, pointiert gesetzte Schlagzeugeffekte und geschickt eingeflochtene Tanzszenen reihen seine Arbeit in die große russische Ballett-Tradition seit Tschaikowski ein. Die Uraufführung erfolgte schließlich dennoch nicht in Moskau, sondern 1938 im tschechischen Brünn.
Für den Konzertsaal erstellte Prokofjew drei Suiten, von denen die zweite die am häufigsten gespielte ist. Gleich die Eröffnungsakkorde lassen aufhorchen: Scharfe Dissonanzen künden vom Widerstreit der verfeindeten Familien der „Montagues und Capulets“. Die Spannung entlädt sich in zwei konträren Themen: eine auf- und niederfahrende punktierte Dreiklangsbrechung und eine marschartige Blechbläserfanfare mit ausgesprochenem Pesante-Charakter. In die Verarbeitung dieser Motive ist ein ätherisches Flötensolo mit Harfenbegleitung eingeschoben. Diesem Prolog folgt „Das Kind Julia“ als eine geniale Charakterstudie. Besser hätte Prokofjew das ausgelassene, springlebendige, dabei auch gutmütige und unschuldige Mädchen nicht treffen könnte. Dass auch nachdenkliche Züge in dieses Porträt eingewoben sind, lässt Julias tragisches Schicksal bereits anklingen. Der rettende Engel „Pater Lorenzo“, der letztlich dennoch machtlos gegen das Fatum ist, wird in langsam schreitender Bewegung und den dunklen Farben von Bassklarinette, Kontrafagott, Tuba und Glocke (!) ebenso treffend abgebildet. Der nachfolgende „Tanz“ lebt ganz von der perkussiven Verwendung des Klaviers, den ostinaten Bassnachschlägen und einem herausfordernden Oboen-Motiv. „Romeo und Julia vor der Trennung“ ist mit Sicherheit ein inhaltlicher Höhepunkt der gesamten Komposition. Romeo, der kurz nach der geheimen Hochzeit Julias Verwandten Tybalt erstochen hat, wurde vom machthabenden Prinzen bei Todesstrafe der Stadt Verona verwiesen. Nun folgt der Abschied von seiner Geliebten voll ungewisser Zukunftsahnungen. Das Stück beginnt mit einer klagenden Flötenstimme – wohl Julias kindliches Flehen – über einem unruhigen Zittern in den Streichern. Horn und Klarinette stimmen einen tröstlicheren Abschnitt an, aber auch die sich groß aufschwingende Melodie in den Bratschen (später Saxophon) – vielleicht Romeos Stimme – kann den Ernst der Lage nicht vergessen machen. Die Themen umschlingen sich immer heftiger, als könnten sie im Bewusstsein der Trennung nicht voneinander lassen. Am Höhepunkt bricht die Musik plötzlich ab: Das hoffnungsvolle Motiv erklingt in den Kontrabässen, beantwortet von der Oboe. Dann ein scharfer Bruch von e-Moll nach b-Moll – drastischer könnte die Endgültigkeit dieses Abschieds nicht ausgedrückt werden. Ein zarter, graziler „Tanz der Antillenmädchen“ erweist sich über der Begleitung von Maracas und Tambourin als ein auflockernder Zwischensatz, bevor uns das Schlussstück in die Gruft der Capulets führt. Dort finden wir „Romeo am Grabe Julias“ lagern, er, der nicht weiß, dass Julia gar nicht tot, sondern durch einen Trank Pater Lorenzos nur in einen „scheintoten“ Zustand versetzt worden ist. Romeo vergiftet sich zu ihren Füßen, kurz bevor sie erwacht. Ein anklagender Streicherchor erhebt sich über einem düsteren Konduktrhythmus. Darauf kehrt das Liebesthema wieder, zuletzt von Blechbläsern im Forte „herausgemeisselt“. Das zwischen der Piccoloflöte und dem Kontrabass weit aufgespannte C-Dur am Ende wirkt wie die Stille nach Romeos letztem Atemzug. Eine „Erlösung“ oder gar eine „Überwindung“ bringt es nicht.