Vertraut man den Aussagen der Zeitgenossen, dann war Beethoven das, was man gemeinhin als typischen Choleriker bezeichnet. Er warf schon mal mit einem Teller Suppe nach der Haushälterin, wenn er sich ein Haar darin einbildete. Freilich gibt es von denen, die ihn besser kannten und durchschauten, auch Hinweise darauf, dass diese Zornesausbrüche seine übergroße Verletzlichkeit schützen sollten. Eine solche Person muss Helene von Breuning gewesen sein. Sie hat auf den jungen Komponisten nicht nur einen begütigenden Einfluss ausgeübt, sondern ihm auch den Spitznamen „Raptus“ (der „Wütende“) verpasst – wohl durchaus ein Hinweis auf ihren gesunden Humor. Enjott Schneider, ein Kenner und Kollege Beethovens aus heutiger Zeit, hat diese Bezeichnung zum Titel eines Orchesterstücks gemacht. Der Münchner Kompositionsprofessor möchte darin den Wandel nachzeichnen, den Beethoven unter dem Eindruck seiner Ertaubung vollzogen hat. Auf engem Raum verdichtet das annähernd klassisch besetzte Stück Beethovens Persönlichkeitsentwicklung zu einer zweiteiligen musikalischen Form: Wildheit, Aufbegehren und Ausbrüche im ersten, Demut, Dankbarkeit und Naturliebe im zweiten Teil. Als Mittel, Bezüge zu Beethovens Persönlichkeit herzustellen, lässt Schneider zahlreiche Beethoven-Zitate schlaglichtartig in der Musik aufblitzen. So hören wir Motive aus Hauptwerken wie der Coriolan-Ouverüre, der dritten, fünften und neunten Sinfonie, dem cis-Moll Streichquartett, der Oper „Fidelio“ und anderen. Den Unter- und Hintergrund für diese musikalischen Stellvertreter Beethovens gestaltet Schneider nach Gesetzen seiner eigenen Musiksprache.
„Raptus“ wurde im Auftrag des Deutschen Orchesterwettbewerb 2020 geschrieben und erlebte seine Uraufführung 2019 in Jena.