Wenn Jean Françaix in der Anmerkung zu seiner 1978 für das Westfälische Sinfonieorchester Recklinghausen geschriebenen „Ouverture anacréontique“ von „Klarheit“ spricht, so meint er damit nichts weniger als „simplicité“ (Einfachheit). Im Gegenteil, Françaix Musik ist immer so komplex und vielschichtig, dass Klarheit einfach schon aus Gründen der Verständlichkeit nötig scheint. Wenn man tiefer in die Struktur seiner Musik eindringt, zeigt sich sofort, dass sich diese Klarheit höchstens im Gewand von Raffinesse und Artistik zeigt. Unbestreitbar und eindeutig „klar“ sind hingegen Françaix kalligraphisch gearbeitete Partiturhandschriften…
Rhythmisch gesehen fällt in der Ouverture eine Tendenz zu Synkopierung und Taktverschleierung auf, bis hin zu dem in der europäischen Kunstmusik seltenen „Bulgarischen Rhythmus“, einer ungeraden Aufteilung des 4/4-Taktes in 3+3+2 Achteln. Eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht der ff-Höhepunkt gegen Ende, an dem der vorherrschende 4/4-Takt mit einem gleichzeitigen 6/4-Takt polyrhythmisch unterlegt ist. Harmonisch betrachtet nutzt der Komponist die Spannungsverhältnisse von Terzverwandtschaft und Bitonalität (zwei Tonarten zur gleichen Zeit), um der Musik ein exaltiertes Erscheinungsbild zu verleihen. Das ist vielleicht ein bisschen so, als würde ein französischer Modeschöpfer seinem Model Pelzmütze und Minirock zugleich adjustieren. Auch melodisch gesehen sorgt der Kontrast zwischen Dreiklangsbrechungen auf der einen und Chromatik auf der anderen Seite für Spannung. Klanglich gesehen gehört die langsame Einleitung den Streichern im untersten Dynamikbereich, der schnelle Hauptsatz den mal staccato, mal legato spielenden Holzbläsern. Der Gesamteindruck des kurzen Werkes ist schillernd und übersprudelnd, dabei aber ganz im Sinne des Wortes „anacréontique“ stets leicht, graziös und anmutig. Eben „très français“ – oder wie Françaix es augenzwinkernd verballhornt hat: „très Françaix“!