Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 99

1.Nocturne
2.Scherzo
3.Passacaglia – Cadenza
4.Burlesque

Was man mit dem Begriff „russische Seele“ zu umschreiben versucht, ist eine ans Mystische heranreichende, von widerstreitenden Impulsen bewegte Tiefe der slawischen Menschenart. Diese reagiert, wie uns die Literatur verrät, gleichermaßen extrem und leidenschaftlich auf innere und äußere Anstöße. Beide Werke des heutigen Programms entsprechen in ihrer Ambivalenz solcher Seelenart genau: Musik, die in einer radikalen Form authentisch ist, gerade dort, wo sie für westliche Ohren übersteigert und überzeichnet klingt.

Im Fall von Dmitri Schostakowitsch wurde und wird immer wieder versucht, seine Musik als biographischen Reflex, ja als zeitgeschichtliches und politisches Versteckspiel zu begreifen. So auch im Falle seines ersten Violinkonzerts, das für den Komponisten inmitten außergewöhnlich unangenehmer Umstände entstand. Kurz vor der Fertigstellung wurde Schostakowitsch 1948 von offizieller Seite des „Formalismus und der Volksfremdheit“ angeklagt und aller öffentlichen Ämter enthoben. Erst auf Druck des Widmungsträgers David Oistrach kam es 1955 doch noch zur Uraufführung – da war Stalin bereits zwei Jahre tot. Es wäre aber zu eng gefasst, in dem Konzert nur einen historischen Kommentar zu erkennen. Als lebensfähiges Kunstwerk musste es über politische Mimikry hinausgehen, um für Menschen auch anderer Zeiten und Orte ausdrucksfähig zu bleiben. Es spricht für den Rang Schostakowitschs, dass ihm auch diese Dimension gelungen ist.

Die viersätzige Anlage rückt das Werk in die Nähe einer konzertanten Sinfonie mit großer Orchesterbesetzung, darunter sogar zwei Harfen. Die Solostimme ist hochvirtuos, dabei aber stets so geigerisch geführt, dass man mit Recht entscheidende Hinweise David Oistrachs vermuten darf. Der erste Satz zeigt sich als ein ständig fließender Monolog der Solovioline. Instrumente wie Bassklarinette, Kontrafagott, Tuba und Tamtam schaffen einen dunklen Hintergrund, vor dem sie sich leuchtend abhebt. Motivisch stechen die kleine Sext, der Tritonus sowie eine charakteristische Folge von Halbton-Ganzton-Halbton hervor. In der Satzmitte regt eine Triolenbewegung im Solo eine Steigerung an, an deren Höhepunkt die Oboe chromatisch abwärts zu den Kontrabässen führt. Langsam verebbt der düstere Gesang. Eine hektische Zick-Zack-Figur in Flöte und Bassklarinette löst daraufhin ein gespenstisches Scherzo in b-Moll (!) aus, dessen große Dramatik eine „grimmige Grimasse“ zu reißen scheint. Es kommt zu einer Stelle, die typisch für Schostakowitschs Klangästhetik ist: Die Holzbläser, allen voran die scharfe Piccolo-Flöte stoßen im Verbund mit dem Xylophon eine groteske Marschmelodie wie eine an unsichtbaren Schnüren zappelnde und zitternde Schreckgestalt hervor. Nach der Wiederkehr der gezackten Anfangsthematik endet der Satz in schrillem Fortissimo. Daraus kriecht im Folgesatz ein 17-taktiges Passacaglia-Thema hervor, das neun Veränderungen, in der siebenten sogar als Solo in der Oberstimme, durchlaufen wird, bevor es in eine Kadenz ausläuft. Attacca schließt das von einem „Wilhelm-Tell“-Rhythmus angefeuerte Finale. Der erste Einsatz der Solostimme klingt in etwa so, als hätte man das Finale aus Mendelsohns Violinkonzert zerschnippselt und „falsch“ wieder zusammengeklebt. Themen aus den früheren Sätzen klingen in dieser vor Energie strotzenden „Burleske“ noch einmal an und man versteht, dass gerade dieser Satz bei der Uraufführung sofort wiederholt werden musste.