Schöpferische Künstler brauchen auf ihrem künstlerischen Weg mitunter auch Orientierung. Die drei Komponisten des heutigen Konzertes haben sich wechselseitig solche Orientierungen gegeben. Jenen förderlichen Einfluss, den Johannes Brahms von Robert Schumann empfangen hat, hat er selbst an Antonín Dvořák weitergegeben. Dieser hat dieselbe Funktion für seine Schüler übernommen. Ins Musikalische übertragen könnte man die Variationsform geradezu als ein Abbild solcher „Naheverhältnisse“ sehen. Denn die Gedanken des früheren werden zum Ausgangspunkt für die Fantasie des späteren Komponisten. Brahms war ein Meister darin, sich mit dem Material von Komponistenkollegen auf kreative Weise auseinanderzusetzen. Mit Klaviervariationen über Themen von Händel, Schumann und Paganini befand er sich in bester Gesellschaft von Bach und Beethoven, die mit den „Goldbergvariationen“ bzw. den „Diabellivariationen“ epochale Variationswerke vorgelegt hatten. 1870 stieß Brahms auf ein Bläserdivertimento von Joseph Haydn mit einem als „Chorale St. Antoni“ übertitelten zweiten Satz. Diese schlichte Harmoniemusik besitzt die Besonderheit einer 10-taktigen Anlage. (In klassischer Zeit üblich wäre eine 8-taktige Periodik gewesen.) Was Brahms in seinen Haydnvariationen daraus macht, welche Schattierungen er aufdeckt, zeigt den Meister. Sukzessive verändert er Tongeschlecht, Takt, Rhythmik, Melodik, Instrumentation, Satztechnik und musikalischen Charakter. Das geschieht alles auf eine so kunstvolle Art, dass der Zusammenhang zwischen den Einzelsätzen niemals abreißt.
Gleich die erste Variation erstaunt: Vom Hauptgedanken bleibt nichts anderes übrig als eine Andeutung von Harmonie und Begleitrhythmus. Darüber legt Brahms eine für ihn typische Verflechtung von Triolen und Achteln. Die zweite Veränderung geht von der initialen Punktierung des Themas aus und führt es nach Moll. Bereits jetzt zeigt sich, dass Brahms bei jeder neuen Variation nicht einfach nur das Ausgangsthema wieder aufgreift, sondern zusätzlich auch Elemente früherer Variationen beibehält. Das ist, was Arnold Schönberg später als „entwickelnde Variation“ bezeichnet, bewundert und übernommen hat. Die getragene Variation Nummer 3 beraubt das Thema seiner Rhythmik und konzentriert sich auf die Intervallschritte. Variation 4 rückt das Tempo noch weiter nach unten und wechselt erstmals in einen Dreier-Takt. Der nächste Abschnitt behält das Dreier-Gefühl bei und lässt die triolischen Figuren kunstvoll zwischen Holzbläsern und Streichern hin- und herwechseln. Die anschließende „Jagd“-Variation eröffnen die Blechbläser. Ein feiner Siciliano im 6/8-Takt mit Flöten-Solo sorgt für ein kurzes Innehalten, bevor die letzte Variation unheimlich und etwas düster vorüberhuscht. Das krönende Finale baut Brahms über dem fünftaktigen Bass des Themas auf. Zusehends treten immer mehr Gegenstimmen dazu – ein Variationsprinzip innerhalb des Variationswerkes. Diese „Passacaglia“-Technik wird er später im Finale seiner vierten Symphonie ebenfalls anwenden. Am Ende kehrt das Hauptthema in Originalgestalt triumphal in den Trompeten wieder – eine Klammer, die dem Werk ein Maximum an Dichte und innerer Geschlossenheit verschafft. Mit seinen „Haydn-Variationen“ hat sich Brahms für seinen weiteren Weg in Richtung Sinfonie gewappnet: hier ist kein Ton zu viel und keine Idee zu wenig.