Symphonie C-Dur D 944 „Die Große“ II

Andante – Allegro ma non troppo
Andante con moto
Scherzo. Allegro vivace
Finale. Allegro vivace

Hatte Robert Schumann anlässlich seines Aufenthalts in Wien von Oktober 1838 bis April 1839 gehofft, auf Beethovens Spuren zu wandeln und eventuell noch unbekannte Werke des Meisters zu bergen? Wenn ja, dann Fehlanzeige. Zu begehrt war alles, was aus der Feder des 1827 verstorbenen Komponisten geflossen war, als dass noch ungehobene Schätze zu finden gewesen wären. Ein anderer Wiener Komponist erregte Schumanns Aufmerksamkeit. Dieser andere war keine Berühmtheit wie Beethoven; Dieser andere hatte keine große Gemeinde an treuen Verehrern. Stattdessen schien sich die Erfolglosigkeit Franz Schubert auch nach seinem Tod fortzusetzen. Schuberts Bruder Ferdinand war es aber, an den sich Robert Schumann wandte und siehe da, hier wurde er fündig: Er entdeckte eine wahre Sensation: Eine vollständige, bisher unaufgeführte Sinfonie, von der man bis heute nicht gesichert weiß, zu welchem Zeitpunkt Schubert sie eigentlich komponiert hatte. Man kann dem Gang der Musikgeschichte nur danken, dass ein weitblickender Geist wie Schumann darauf gestoßen war und nicht etwa ein unterkühlter Untermieter oder ein papierbedürftiger Jungliterat. Das Schicksal der mehreren hundert Partiturseiten wäre besiegelt gewesen. Schumann aber erkannte den hohen Rang des Werkes und machte sie niemand Geringerem als seinem Freund Felix Mendelssohn-Bartholdy für die Uraufführung am 21. März 1839 – zu Bachs 154. Geburtstag! – in Leipzig schmackhaft.

Das Werk trägt den Beinamen „Große C-Dur Symphonie“. „Groß“ hat in der Musik mehrere Bedeutungen. Zum einen als Umschreibung von „gewichtig, ausgedehnt“. In dieser Fassung wird „groß“ herangezogen, um diese sie von Schuberts sechster Symphonie zu unterschieden, die in derselben Tonart steht. (Dasselbe Verhältnis finden wir auch bei Mozarts kleiner und großer g-Moll Symphonie.) Zum anderen meint das Beiwort „groß“ aber auch, dass das spätere Werk das frühere an Rang überragt – und dem muss man wohl zustimmen. Die Maße einer Eroica und der Tiefgang von Schuberts letzten Kammermusikwerken (Streichquintett, B-Dur Klaviersonate etc.), das sind die Eckpunkte dieses singulären Werkes. Dementsprechend viel Zeit nimmt sich Schubert zum Aussingen seiner Melodien, die er wie immer aus dem Vollen schöpft. Mit einer hymnischen Einleitung hebt der erste Satz an, eine ritterliche Floresten-Atmosphäre, die den staunenden Entdecker Schumann wohl unmittelbar angesprochen haben dürfte. Der Hauptsatz behält diese hochherzige Atmosphäre bei: Punktierte Rhythmen reiben sich an Triolen, unerhörte Modulationen katapultieren die Musik in entfernteste Tonarten, das Zitat der Einleitung am Ende weist direkt auf Bruckner voraus. „Klassisch“ kann man diese 685 Takte daher wohl nicht mehr nennen – das Tor zur romantischen Sinfonik ist bereits weit aufgestoßen. Auch der zweite Satz wirkt bei aller Bereitschaft, der klassischen Form zu genügen, seltsam brüchig. So ansprechend die beiden konträren Themenkomplexe auch sind – wie aber geht die Militärmarschrhythmik mit der unendlichen Melodie des zweiten Themas zusammen? Mehrere Momente des Innehaltens, wenn nicht gar der Stagnation tun ein Übriges, um den Untergrund schwanken zu lassen. Darauf folgt ein Scherzo wie es im Buche steht: ausgelassen, tänzerisch, positiv, beinahe ein bisschen zu optimistisch: Denn was haben diese ganzen „B“-Tonarten bis hin zu Ges-Dur in einem klaren C-Dur zu suchen? Kleinere und größere Abwege (Abgründe?) kann Schubert anscheinend auch hier nicht verheimlichen. Und das Finale? Dieses sollte ja die Sinfonie eigentlich abrunden, „zu einem Ende“ führen; Aber beim Finale von Schuberts „Großer“ hat man das Gefühl, als ob Schubert genau das Gegenteil möchte: nur ja nicht aufhören, nur ja immer weitersingen, damit dieser grässliche Zustand der Stille nicht eintreten muss, das „große Verstummen“, das uns unwiderrücklich mit unserer menschlichen Bedingtheit und Beschränktheit konfrontiert. So kommt es, dass in dieser Musik immer weiter Welle auf Welle folgt. Ist diese Lebenslust aber echt? Oder nur flüchtiger Rausch? Versucht Schubert mit dieser Ekstase seiner „hoffnungslosen“ kleinen Existenz als gescheiterter Wiener Musiker zu entfliehen? Zu dieser Unterstellung dürfen wir uns nicht hinreißen lassen, aber ein kleines Detail mag diese Sichtweise belegen: Schubert lässt den Schlussakkord nicht in typisch Beethovenscher Manier recht stark und laut auszuhalten und damit dem ganzen Werk so einen richtigen Nachdruck „in Ewigkeit“ aufdrücken. Vielmehr gestaltet Schubert den letzten Klang des Werkes im diminuendo, im Verlöschen, das scheinbar gar nicht zu der vorigen Kraftentfaltung passt. Ist das nicht doch eine Spur von Nachdenklichkeit, von „Zurücknahme“? Ist das nicht doch die ureigene Introversion, die dem empfindsamen, stillen Schubert besser zu Gesicht steht als die Faust der Titanen? Möglicherweise…

Text: Stephan Höllwerth