„Zwei Pilger, neigen meine Lippen sich,
den herben Druck im Kusse zu versüßen.“
„Romeo und Julia, I/5)
Einer der stärksten und zentralsten Topoi der gesamten abendländischen Kunst- und Geistesgeschichte ist das Begriffspaar „Eros“ und „Thanatos“. Die Verbindung von „Liebe“ und „Tod“ wurzelt in der Antike, das Christentum hat sie später ins Religiöse überhöht. Shakespeares ganz auf das Diesseits gerichtete Theaterwelt weiß von einer christlichen Überwindung des Todes durch die Liebe allerdings nichts. Er lässt die „ideale“ Liebe zwischen Romeo und Julia in ihrer beider Tod enden. Auf das höchste zugespitzt erscheint dieser Konflikt auch dadurch, dass sich die seltene Tiefe dieser Liebe mit der vollkommenen Sinnlosigkeit ihres Endes in Widerspruch befindet. Dass der Doppeltod schließlich Versöhnung stiftet, ist vor einem so pessimistischen Hintergrund nicht mehr als ein schwacher Hoffnungsschimmer.
Es erstaunt, dass sich nur spärliche Opernvertonungen dieses Stoffes finden lassen, am wenigsten in Italien, wo das Stück ja spielt, oder in England, wo es geschrieben worden ist. Immerhin wandten sich zwei französische Musiker, Charles Gounod und Hector Berlioz dem Stoff zu. Berlioz dramatische Sinfonie lernte Peter Iljitsch Tschaikowski über die Vermittlung seines Kollegen und Freundes Mili Balakirew kennen. Tschaikowski ließ sich tatsächlich anregen, allerdings versuchte er den Stoff nicht als Oper, sondern als „programmatische Ouvertüre“ zu verarbeiten, wie er es in ähnlicher Weise auch bei anderen Vorlagen der Weltliteratur getan hat („Hamlet“, „Francesca da Rimini“, „Der Sturm“ etc.). Man darf sich solche Werke aber eben nicht als „Vorspiel“ zu einer Oper oder einer Schauspielmusik denken. Vielmehr rücken diese Ouvertüren bei Tschaikowski in die Nähe der sinfonischen Dichtung, indem sie den Nukleus des Dramas auf engstem Raum musikalisch abzubilden. Drei Anläufe unternahm der Komponist im Falle der Ouvertüre zu „Romeo und Julia“ zwischen 1870 und 1881. Exemplarisch finden wir in der Endgestalt die verschiedenen Handlungsebenen musikalisch vertreten und zu einem Satz von seltener Geschlossenheit verdichtet: Die reine Klosterwelt um Pater Lorenzo im anfänglichen Kirchenlied, das Kampfgeschehen der befeindeten Montagues und Capulets in den heftigen Rhythmen und rasenden Streicherfiguren des Allegros, das auf einen weichen Hornteppich gelegte und sich hymnisch aufschwingende Thema des Liebespaares, der schmerzliche Zusammenbruch Romeos an der – vermeintlichen! – Leiche Julias. Am Ende kehrt das Kirchenmotiv wieder, wie in einer entfernten Apotheose folgt das Liebesthema. Jener Rhythmus, der vorher für unerbittlichen Kampf stand, erklingt am Ende strahlend und gedehnt in Dur – vielleicht ein Sinnbild für die durch Liebe und Tod erreichte Versöhnung der Gegensätze.